Einen Parcours durch 600 Jahre Geschichte – und das heißt hier Verfolgungsgeschichte – bot Rinaldo Strauß vom Hessischen Landesverband Deutscher Sinti und Roma in der Online-Veranstaltung der NaturFreunde-Stärkenberatung Hessen am 15. November 2024. Ein Bericht von Aglaja Beyes-Corleis.
In seinem Vortrag mit dem Titel: „Wie 'Zigeuner'bilder einen Völkermord möglich machten“ befasste sich der stellvertretende Geschäftsführer des Hessischen Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma mit der Problematik des „Z“-Wortes als Fremdzuschreibung, sowie der Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung seiner Gruppe. Sein eigener Vater und seine Großeltern waren nach Auschwitz deportiert worden, der Vater überlebte. Seine Mutter war in einem Lager bei Frankfurt. Und das sei leider ein typisches Schicksal. Neben den sechs Millionen Juden wurden in der NS-Diktatur circa 500.000 Sinti und Roma ermordet. Doch dieser Teil des Völkermordes wurde jahrzehntelang nicht anerkannt.
Detailliert berichtete Strauß von der Kontinuität der Verfolgung in den ersten Nachkriegsjahrzehnten. So habe der Bundesgerichtshof (BGH) noch im Jahr 1956 – elf Jahre nach Ende der Naziherrschaft – die Ablehnung einer Entschädigung für erlittene Verfolgung bekräftigt. Erst 1982 erkannte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) den Völkermord an den Sinti und Roma an. In seiner Erklärung hieß es: „Den Sinti und Roma ist durch die NS-Diktatur schweres Unrecht zugefügt worden. Sie wurden aus rassischen Gründen verfolgt. Diese Verbrechen sind als Völkermord anzusehen.“ Ein Meilenstein, so Rinaldo Strauß.
Erst seitdem konnten BGH-Verfahren wieder neu aufgerollt werden. 1997 folgte dann eine wichtige Rede des Bundespräsidenten Roman Herzog, der erklärte, der Völkermord gegen Sinti und Roma sei genauso planmäßig verlaufen wie gegen die Juden. Da dies so spät geschah, fehlten aber Jahrzehnte im Kampf gegen den Antiziganismus, was bis heute zu spüren sei.
Die Anfänge deutscher Sinti und Roma
Aber zurück zu den Anfängen. "Seit wann gibt es eigentlich Sinti und Roma in Deutschland", fragte der Referent. Aktenkundlich ist die Volksgruppe seit dem Jahr 1407 mit einer Erwähnung in Hildesheim. Nach heutigem Forschungsstand wisse man, dass diese Menschen aus dem Nordwesten Indiens, dem heutigen Pakistan, ausgewandert waren. Dort gibt es eine Region namens Sindh. Die heutigen Sinti kamen über die griechischen Inseln nach Italien und Frankreich und von Lothringen in den deutschsprachigen Raum. Die andere Gruppe, die Roma, zogen über den Balkan nach Europa. In ihrer Sprache, dem Romanes (verwandt mit dem altindischen Sanskrit), heißt „Rom“ sowohl „Mann“, wie „Mensch“.
„Roma“ und „Sinti“ sind Selbstbezeichnungen, betonte Strauß. „Das Z-Wort ist hingegen eine Fremdbezeichnung, denn 'Zigeuner' gibt es gar nicht.“ „Zigeuner“ leite sich vom griechischen „Athinganoi“ ab, was so viel wie „Unberührbar“ bedeutet. Als „Zigeuner“ beschimpft wurden die deutschen Sinti seit dem 14. Jahrhundert und in einen Topf geworfen mit allen Menschen, die sogenannte „unehrenhafte“ Berufe hatten oder denen man diese zuschrieb.
Deutsche Sinti gibt es also seit sechshundert Jahren -- und schon 450 Jahre vor Gründung des Deutschen Kaiserreiches. Aber wie erging es ihnen hierzulande? Obwohl er kein Historiker sei, wie Strauß beiläufig erwähnte, ging er auf die Umbrüche des Spätmittelalters ein, die für seine Volksgruppe verheerend waren. Bereits im Jahr 1497 wurden die sogenannten „Zigeuner“ auf dem Freiburger Reichstag für „vogelfrei“ erklärt. Damit durften sie jederzeit vertrieben und ermordet werden. An eine Sesshaftigkeit, an die Ausübung der meisten geregelten Berufe, war nicht zu denken, zumal die Mitgliedschaft in den Zünften sowieso verboten war. Was blieb, als sich ein fahrbares Gestell anzuschaffen, um jederzeit flüchten zu können? Wem konnte man vertrauen als der eigenen Familie?
Lustig ist das 'Zigeuner'leben?
Nach dieser dramatischen und anschaulichen Darstellung, blieb uns, den teilnehmenden NaturFreund*innen, nicht nur ein Kloß im Halse stecken, sondern auch die Lieder, die wir einst gesungen hatten. „Lustig ist das 'Zigeuner'leben“ - ist das nicht eine Romantisierung von vierhundert Jahren Unterdrückung? „Müssen dem Kaiser kein Zins bezahlen“ - wäre ja schön, stimmte aber nicht. Für Nichtsesshafte gab es Wegezölle. Die Herrscher fanden Wege, wie sie den immer wieder Vertriebenen Steuern und Zölle aufbürden konnten.
Rinaldo Strauß zeigte auf, wie einige dieser Lieder nun wirklich jedes Klischee bedienen und dass die scheinbar „positiven“ Eigenschaften, die vermeintliche „Freiheit“ und „Wanderschaft“ eben erzwungen waren, denn nach der Entrechtung und Vertreibung war der einzige Ausweg ein mobiles Heim.
Nach so viel Verfolgungsgeschichte gab es am Ende des Vortrages auch ein paar Lichtblicke. Dabei ist sicher zuerst die Selbstorganisation, die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma zu nennen, die wesentlich zum Umdenken der deutschen Politik beiträgt. Dazu gehören Fortbildungen, Workshops und mobile Ausstellungen des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma sowie seiner Landesverbände. Circa 120.000 Mitglieder der Volksgruppe gebe es heute in Deutschland. Genau wisse man es nicht, denn „zum Glück gebe es keine Erfassung mehr, denn wohin die letzten Erfassungen geführt haben ist bekannt“.
Offiziell gibt es vier gesetzlich anerkannte nationale Minderheiten in Deutschland: die dänische Minderheit, die friesische Volksgruppe, die Sorben und die deutschen Sinti und Roma. In Europa gibt es zwischen acht und zwölf Millionen Sinti und Roma, womit diese Volksgruppe die größte Minderheit ist.
Musiker wie Haydn, Brahms und Liszt musizierten mit Roma-Musiker*innen
Wie haben Roma und Sinti die deutsche und die europäische Kultur in den vergangenen fünfhundert Jahren mitgeprägt? Wer sucht, findet ihre Spuren, trotz der intensiven Vertreibungsgeschichte. So lauschten die Gebrüder Grimm Märchen der Roma, die dann in andere Märchen einflossen. Und Musiker wie Haydn, Brahms und Liszt musizierten mit Roma-Musiker*innen und wurden von ihrer Musik beeinflusst. Ähnliches gilt für den spanischen Flamenco und die ungarische Volksmusik.
Eine so profunde Darstellung habe sie noch nie gehört, sagte eine Teilnehmerin im Anschluss. Eine Stunde lang fragten, diskutierten und berieten sich die Teilnehmenden im Anschluss an den Vortrag. Wie sollen wir umgehen, mit dem „Kulturgut“ der NaturFreunde, zu dem eben auch sogenannte „"Zigeuner"lieder“ gehören, fragten wir uns.
Klar war allen sofort: Menschen zu beleidigen, kann niemals ein „Kulturgut“ sein! Dabei stellte der Referent klar, dass er nichts von Verboten halte. Allen war aber klar: Wir müssen uns mit diesem Thema verstärkt beschäftigen, auch unseren alten Liedern. Wir müssen uns fragen: Wie lassen sich diese Projektionen, diese Zuschreibungen vermeiden? In der Diskussion stellte sich heraus: Um Fremdbezeichnungen handelt es sich auch bei den entsprechenden Begriffen in anderen Sprachen. Auch der englische Begriff „Gypsies“ ist da nicht besser. Dieser bezieht sich auf den Mythos, die Volksgruppe käme angeblich aus Ägypten, was längst widerlegt ist.
Am Ende waren alle froh, sehr viel voneinander gelernt zu haben. „Gemeinsam können wir die Welt zu einem besseren Ort machen“, erklärte Rinaldo Strauß in seinem Schlusswort.
Aglaja Beyes-Corleis